Der Titel klingt monumental und statuarisch, großformatig und nach viel Gewicht. Das zur Ikone gewordene Konterfei des 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wird aufgerufen, wie es sich etwa im Mount Rushmore National Memorial findet, in dem die kantigen Gesichtszüge Abraham Lincolns ihren idealen Ort – und ihr ideales Medium fanden: in Stein gemeißelt. Den Titelassoziationen zum Trotz ist Steven Spielbergs „Lincoln“ weder episches Historiendrama noch Biopic, sondern das Porträt eines Politikers innerhalb eines genau umrissenen, zeitlich begrenzten politischen Prozesses, in dessen Zentrum ein für die demokratische Geschichte der USA bedeutungsvoller Verfassungszusatz steht. „Lincoln“ konzentriert sich auf die vier Monate dauernden zähen Bemühungen des amerikanischen Präsidenten, im Jahr 1865 den 13. Verfassungszusatz, der die formelle Abschaffung der Sklaverei vorsieht, im Kongress durchzubringen. Widerstand findet sich nicht nur auf Seiten der Demokraten, aus deren Lager der Spottname „Abraham Africanus, der erste Diktator“ stammt, sondern auch in den eigenen Reihen; das Hindernis stellen dabei nicht etwa überzeugte Sklavereibefürworter dar, sondern radikale Republikaner wie der Rechtsanwalt Thaddeus Stevens, dessen Forderungen nach kompletter Rassengleichheit über Lincolns Ziele weit hinausgehen. Hinzu kommen Pragmatiker, die vor allem ein Ende des Bürgerkriegs favorisieren und dafür auch den Verfassungszusatz opfern würden. Lincoln befürwortet zwar ebenso den Frieden und versucht ihn durch Verhandlungen mit den konföderierten Staaten voranzutreiben, gleichzeitig jedoch wünscht er nichts mehr als ihn hinauszuzögern; denn wenn der Krieg einmal beendet ist, würden die in die Union zurückgekehrten Sklavenstaaten an der Abstimmung teilnehmen und den Verfassungszusatz kippen. Lincoln ist daher gezwungen, zwischen den verschiedensten politischen Kräften und Lagern zu jonglieren: Er muss Stimmen der Demokraten gewinnen, die unterschiedlichen Kräfte in der eigenen Partei vereinen und sich im anbahnenden Friedensprozess taktisch verhalten.
Auch wenn „Lincoln“ mit einem opulenten Schlachtengemälde beginnt, das nahtlos an die Kriegsszenen von „Der Soldat James Ryan“
(fd 33 341) anknüpft, entwickelt sich der Film rasch zum Kammerspiel. Das Bild wird überwiegend von Innenräumen dominiert, von dunklem Holz, schweren Vorhängen, Rauchschwaden und dauerdiskutierenden Charakterschädeln; dabei wechseln die Schauplätze im Wesentlichen zwischen Lincolns Schlafzimmer, dem Wohn-, Studier- und Debattierzimmer, den Büros der Abgeordneten und dem Kongress, wo der Verfassungszusatz erhitzt diskutiert wird. Vor allem zwischen Thaddeus Stevens und Demokraten wie George Pendleton und Fernando Wood kommt es zu scharfzüngigen Wortgefechten. Nur wenige Szenen gehen über das, was sie zeigen, unmittelbar hinaus; sehr schön etwa eine Sequenz, in der sich Lincolns jüngster Sohn Ted Fotografien von Sklavenkindern auf Glasplatten ansieht: zwei Jungen, 700 Dollar, heißt eine der Bildunterschriften; das reicht aus, um den Raum zu öffnen für das Verbrechen und das Drama der Sklaverei. Tony Kushners beeindruckend dichtes Drehbuch ist, neben einem Exkurs zum Ehemann und Familienvater Lincoln, so detailliert und präzise auf die den Verfassungszusatz begleitenden Umstände fokussiert, dass „Lincoln“ für einen Spielberg-Film fast schon sperrig anmutet; es geht vor allem um taktische Manöver, juristische Spitzfindigkeiten und politische Rhetorik – um Redekultur (darunter auch Lincolns Hang zur parabelhaften Anekdotenerzählung), Redeordnungen und die Dramaturgie innerhalb von Debatten.
Zentrale Figur des Films ist Lincoln, der Politiker und kluge Stratege, nicht Lincoln, der Idealist und bis heute in den USA geradezu sakral verehrte Retter. So werden die Stimmen der Demokraten dann auch nicht mit Überzeugungsarbeit, sondern durch Bestechung gewonnen. „Wir sind Walfänger“, sagt Lincoln einmal, später gehen seine Mitstreiter „auf die Pirsch.“ Selbst der leidenschaftliche Stevens nimmt schließlich von seinen radikalen Forderungen Abstand, um dem Verfassungszusatz zum Erfolg zu verhelfen. Nicht zuletzt rückt „Lincoln“ damit die noch immer verbreitete Ansicht zurecht, die Abschaffung der Sklaverei habe sich durch die Einheit der Nordstaaten vollzogen; tatsächlich waren die Gründe der Befürworter – wie die ihrer Gegner – ebenso divers wie komplex.
Von widerstreitenden Kräften bestimmt ist aber auch der Film „Lincoln“. Auf der einen Seite wirft Spielberg einen unvoreingenommenen, quasidokumentarischen Blick auf die historischen Ereignisse, die eher protokolliert als dramaturgisch ausgeschmückt werden und durch Daniel Day-Lewis’ nuanciertes Spiel zahlreiche Anschlüsse an zeitgenössische (bzw. überzeitliche) politische Kultur erlauben; auf der anderen aber grätscht immer wieder eine Perspektive in den Film, die um die historische Bedeutung der Ereignisse weiß (allein der Soundtrack kündigt dies donnernd und tosend an) und Lincoln als zeichenhafte, bereits historisch gewordene Figur in die Erzählung einschreibt. Auch Kushners hypersprachliches Drehbuch verträgt sich nicht immer mit Spielbergs Vorliebe für „große“ Erzählungen und Mythenbildung, der er ausgerechnet am Anfang und in der Schlussszene (ein Flashback zu Lincolns zweiter, sehr heroisch in Szene gesetzter Antrittsrede) nicht widerstehen kann. In diesen statuarischen Inszenierungen verschwindet der Politiker dann doch wieder hinter Lincoln, der in Stein gemeißelten Ikone.