Zwei Außenseiter lernen sich in einem Therapiezentrum kennen. Vincent leidet unter dem Tourette-Syndrom, Marie ist magersüchtig. Er möchte ans Meer, weil das der letzte Wunsch seiner verstorbenen alkoholkranken Mutter war, deren Asche er in einer Dose mit sich herumschleppt. Der Vater wies ihn in die Klinik ein, um den nicht mehr vorzeigbaren Sohn der Obhut von Spezialisten zu überlassen. Da die Spezialbehandlung seiner motorischen Ticks und verbalen Entgleisungen vor allem auf Bevormundung setzt, sucht Vincent die Nähe zur rebellischen Marie, auch wenn diese gelegentlich übers Ziel hinaus schießt und das Anecken zum Dauerzustand erklärt. Wo zwei sich finden, muss ein Dritter für dramaturgische Reibungsflächen sorgen: Vincents Zimmergenosse Alexander ist ein Bündel an schrulligen Zwangsneurosen, ein Kontrollfreak, der den einen oder anderen ins Leere laufenden Dialog rettet oder dafür sorgt, dass der von Marie initiierte Fluchtversuch in ein unterhaltsames Desaster mündet.
Im Gegensatz zu dokumentarisch angehauchten Dramen wie „Das weiße Rauschen“
(fd 35 263) erzählt Regisseur Ralf Huettner seine dreifache Krankengeschichte entlang eines klassischen Komödienschemas, angereichert mit Elementen des Road Movie und eines Vater-Sohn-Konflikts. Dass der Spagat zwischen Ernst und entspannter Aufklärung aufgeht, liegt an der dynamischen Inszenierung und einer erstaunlichen Reife im Umgang mit der jeweiligen Symptomatik. Momente der Peinlichkeit dienen stets der didaktischen Entkrampfung, der Witz kommt mitunter auch angenehm selbstironisch daher.
Als das Trio infernale mit dem gestohlenen Wagen einer Therapeutin nach Italien aufbricht, scheint die Erfüllung von Vincents Traum vom Meer näher zu rücken; nebenbei bietet sich auch die Gelegenheit, die eigene Heilung selbst in die Hand zu nehmen. Damit die Bewährungsprobe nicht zu einfach gerät und die stockende Liebesgeschichte zwischen Vincent und Marie an Fahrt gewinnt, nimmt sein ehrgeiziger und auf Effizienz bedachter Vater die Verfolgung in Begleitung der Klinikpsychologin auf, schließlich ist gerade Wahlkampf und eine Skandalgeschichte für den Politiker ein vorprogrammiertes Fiasko. Das vom Hauptdarsteller Florian David Fitz stammende Drehbuch strotzt mit seinen Anleihen bei „Knocking on Heaven’s Door“
(fd 32 404) nicht gerade vor Originalität, spricht aber eine auf Zwischentöne und melancholische Gefühlslagen setzende Sprache, die vor allem bei Jugendlichen ankommen dürfte, wozu auch der unbeschwerte Gitarren-Soundtrack seinen Beitrag leistet.
Auch wenn manches idyllische Landschaftsbild zwischen Allgäu und Alpen zu gewollt wirkt, sind es vor allem die jungen Darsteller, die ihren schwierigen, zwischen Selbstbezug und Mitgefühl pendelnden Charakteren mit einer beeindruckenden Skala an Nuancen gerecht werden, die dünne Haupthandlung vergessen lassen und das unsichtbare Innere ganz ohne Dialoge hinter der sichtbaren Erkrankung spiegeln.