Theatralisch aufgefächerter Untergang einer Familie, die sich nach einer Reihe von Katastrophen auflöst und deren Mitglieder dem Wahnsinn anheim fallen. Die sorgfältig rekonstruierte Fassung eines lange verschollenen Stummfilms, der durch seine expressionistische Formsprache und seine Experimentierfreude für sich einnimmt. Die überbordende Geschichte findet jedoch zu keiner Einheit und erfordert durch sein zeitgenössisches Pathos auch ein dem Sujet aufgeschlossenes Publikum.
- Ab 14.
Nerven
- | Deutschland 1919 | 110 Minuten
Regie: Robert Reinert
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1919
- Produktionsfirma
- Monumental-Film-Werke
- Regie
- Robert Reinert
- Buch
- Robert Reinert
- Kamera
- Helmar Lerski
- Musik
- Joachim Bärenz
- Darsteller
- Eduard von Winterstein (Fabrikbesitzer Roloff) · Lya Borée (Roloffs Frau Elisabeth) · Erna Morena (Roloffs Schwester Marja) · Paul Bender (Lehrer Johannes) · Lili Dominici (Johannes' blinde Schwester)
- Länge
- 110 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
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- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Kaum ist die Erdrosselte zu Boden gesunken, da wird der Blick ihres Mörders nach oben gelenkt. Ein Kanarienvogel im Käfig weckt sein Mitleid. Niedrige Tat – erhabenes Gefühl: Zwischen diesen Extremen schwankt „Nerven“ auch nach dem Epilog beständig. 1919 gedreht, kreist in Robert Reinerts „Monumental-Film“ alles um die inneren Erschütterungen einer Welt, die von Gewalt und Umbruch geprägt ist. Zwei Ereignisse haben ihren Niederschlag gefunden: das Trauma des Ersten Weltkriegs und die unmittelbar zurückliegenden Unruhen während der Münchner Räterepublik. Das Gros der Szenen mit Aufständischen wurde 1920 von der Filmprüfstelle kassiert. Die Nationalsozialisten haben später dann gänzlich dafür gesorgt, dass der Jude Reinert (1872–1928) und sein Stummfilm „Nerven“ aus der Filmgeschichtsschreibung verschwanden. Aus Fragmenten deutscher, russischer und amerikanischer Archive hat Stefan Drößler, der Leiter des Münchner Filmmuseums, nun eine 110 Minuten lange Fassung rekonstruiert. Die DVD-Edition überzeugt mit informativem Zusatzmaterial und der flüssigen Klavierbegleitung von Joachim Bärenz. Ein Drittel des Originals bleibt verloren, solange sich der Glücksfall „Metropolis“ nicht wiederholt, wobei „Nerven“ dem Fritz-Lang-Klassiker künstlerisch nicht das Wasser reichen kann. Als filmhistorisches Dokument, das mit expressionistischer Formensprache experimentiert und einiges Geschick im Einsatz der Mehrfachbelichtung unter Beweis stellt, rechtfertigt das Ergebnis die mühevolle Kleinarbeit seiner Rekonstruktion.
„Nerven, ihr geheimnisvollen Wege der Seele, ihr Sendboten höchster Lust und tiefsten Leides! Zum Tier wird der Mensch, wenn ihr versagt!“ Mit diesen Zeilen stimmt ein Zwischentitel auf das dramatische Geschehen der Haupthandlung ein. Erzählt wird vom Fabrikanten Roloff, der in einer ominösen Maschine die Verwirklichung seiner Weltherrschaftsträume zu erkennen meint. Doch gleich zu Anfang explodiert die Maschine, Roloffs Nerven liegen blank, er beginnt zu halluzinieren. Verfall einer Familie: Roloffs Schwester Marja lässt ihre Hochzeit mit einem Adeligen platzen und schließt sich einem Arbeiteraufstand an, ohne wirklich an die revolutionären Ideen zu glauben. In Wahrheit flüchtet sie vor ihrer abgöttischen Liebe zu dem Lehrer Johannes, der seinerseits versucht, die aufgebrachten Massen zu beruhigen. Die falsche Nachricht, Johannes habe sich Marja unsittlich genähert, bringt den Lehrer ins Gefängnis. Er wird begnadigt, nachdem Roloff, von seiner Schwester aufgeklärt, sich für den Unschuldigen einsetzt. Der Industrielle selbst verfällt immer mehr dem Wahnsinn. Als ihn auch die Ärzte verloren geben, lässt er sich von Johannes ein Gift verabreichen, dass ihn in Frieden sterben lässt („Wie wohl ist mir! Eutanasie. Schön sterben nannten es die Griechen. Ich danke Dir, Johannes“). Sein „Erlöser“, seit langem in Roloffs Gattin Elisabeth verliebt, zieht jetzt mit der Frau seiner Träume zusammen. Doch auch die Nerven des neuen Paars werden einer Belastungsprobe ausgesetzt, als Tagebuchaufzeichnungen des Verstorbenen gefunden werden, die besagen, dass Roloff von den Gefühlen Elisabeths und Johannes’ wusste. Roloff könnte seine Frau wegen des Nebenbuhlers um das Gift gebeten haben – eine Schuld, die nun Elisabeth in die Umnachtung treibt. Sie trennt sich von Johannes, kehrt zurück auf das Schloss ihrer Familie und zündet es an. Im Feuer stirbt jedoch nicht sie, sondern Johannes’ engelhafte blinde Schwester, die sich „zufällig“ im Schloss aufhielt. Elisabeth geht ins Kloster, wo sie von Johannes gefunden und ins Leben zurückgeholt wird, in eine glückliche Zukunft. In den finalen, ins Gleichnishafte zurückkehrenden Einstellungen werden die endlich Zufriedenen mit einem Bauernpaar verglichen, das in den Bergen bei harter Feldarbeit sein Glück findet.
Ausufernde Handlung, krasse Enthüllungen und beständiges Pathos können heutigen Zuschauern reichlich auf die Nerven gehen. Ein Teil des Publikums wird diesen Aspekt freilich mit Humor nehmen. Als Autor seines eigenen Films offensichtlich überfordert, hat sich Reinert jedenfalls vollkommen verzettelt – und das wohl nicht nur nach heutigen Maßstäben. Kein Vergleich mit Robert Wienes „Caligari“ nach dem Drehbuch von Carl Mayer, dessen fantastische Erzählung durchweg eine gewisse Albtraumlogik behält. Trotz der Handicaps gelingen Reinert als Regisseur beachtliche Wirkungen, etwa Roloffs Wahnvorstellungen von einem mit Wasser überfluteten Schloss und der Brand des Anwesens gegen Ende des Films. Bevor die Zensur zuschlug, soll „Nerven“ eine Reihe von Zuschauern in den Nervenzusammenbruch getrieben haben. Diese Gefahr besteht knapp 90 Jahre danach nicht mehr.
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