Die Wahrheit entspricht nicht der Wirklichkeit, will man sie in Bildern und Szenen nachvollziehen. Das ist das Dilemma von Filmen, die den Holocaust dramatisieren. Sie ähneln sich im Grundmuster des namenlosen Schreckens; sie unterscheiden sich lediglich in den Beispielen des Zufalls, der selbstlosen Hilfe oder günstiger Umstände, die das Überleben möglich machten. Die Frage, ob man jene Ereignisse angesichts ihrer monströsen Inhumanität überhaupt visualisieren kann, begleitet jeden filmischen Versuch in diesem Subgenre des Historienfilms. Denn was dort erzählt wird, ist eine grauenhafte Wahrheit: Wer dem blinden Morden etwa nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, der Ghettoisierung und den Deportationen entkam, lebte mehrere Jahre in unmenschlichen Verstecken, bedrängt von der ständigen Angst, entdeckt zu werden - was den sicheren Tod bedeutet hätte. Die Wirklichkeit jener Jahre war millionenfacher Mord und Tod – das Überleben lediglich eine Kapriole des kollektiven Schicksals, das wahllos und unerbittlich wütete, was erklären mag, wieso die meisten Shoah-Überlebenden später mit einem Schuld- Syndrom zu kämpfen hatten. So auch Wladyslaw Szpilman, ist er doch als Einziger seiner Familie dem Inferno entronnen. Bereits bei Kriegsausbruch war er in Polen ein bekannter Pianist, der das Warschauer Ghetto überlebte und nur deshalb Treblinka und Auschwitz entging, weil ihn ein jüdischer Kollaborateur auf dem „Umschlagplatz“ – gegen seinen Willen – aus der Masse der Todgeweihten zerrte. Kurz vor dem Ghetto-Aufstand 1943 gelang ihm die Flucht in den „arischen“ Teil der Stadt, wo ihn Angehörige des polnischen Widerstandes in konspirativen Wohnungen verbargen. Nach dem Warschauer Aufstand im August 1944 versteckte er sich in der menschenleeren Trümmerwüste der in Schutt und Asche versunkenen Hauptstadt, musste hungern, frieren, jede Minute Entdeckung, Verrat und Tod fürchten. In einem dieser Augenblicke, als er auf der Suche nach Essensresten war, stand er plötzlich einem Offizier der Wehrmacht gegenüber. Hauptmann Wilm Hosenfeld forderte den Musiker auf, ihm sein Können auf dem Klavier zu demonstrieren. Ein tödliches Finale, das sich jedoch als Glücksfall erwies. Der Deutsche half dem Juden Szpilman, sich unter dem Dach des Hauses einzurichten, in dem die Wehrmacht ihr Hauptquartier bezog. Er versorgte den Halbverhungerten mit Lebensmitteln, Decken und Kleidung, so dass Szpilman die Zeit bis zum Abzug der deutschen Besatzer überstehen konnte. Ironie der Geschichte: Als sowjetischer Kriegsgefangener starb Hosenfeld sieben Jahre später im Gulag. Gleich nach dem Krieg schrieb sich Szpilman seine Erlebnisse von der Seele. Für die Zensur in Polen geriet die unverblümte Darstellung des Holocaust-Horrors zu pessimistisch, da er weder der Wirklichkeit noch der Wahrheit auswich. „Das wunderbare Überleben“ heißt die deutsche Ausgabe seiner Erinnerungen, ein stilistisch schnörkelloser, mit Sarkasmus und leiser Ironie durchsetzter Bericht. Kein Wunder, dass das Buch das Interesse von Roman Polanski weckte, der seit langem auf der Suche nach einem vergleichbaren Stoff war. Für ihn ist „Der Pianist“ vielleicht sein wichtigster Film, in dem er sich mit dem Trauma seiner Kindheit, seinem Überleben und der Vernichtung seiner Familie konfrontiert: Einen Tag vor der Liquidierung des Ghettos in Krakau konnte Polanski fliehen und fand Unterschlupf bei einer polnischen Familie. Seine Mutter starb in Auschwitz. Auch wenn er immer wieder beteuerte, seine Filme hätten nichts mit seiner Biografie zu tun, liegt ihnen eine Struktur zugrunde, die sie wie entfernte, durch das Genrekino gebrochene Reminiszenzen an persönliche Erfahrungen erscheinen lässt; ein Stigma der Gewalt, der Angst und der Verunsicherung, das er aus dem Ghetto in die Welt getragen und in seine verstörenden Werke transformiert hat. Soweit ich zurückdenken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen“, beschrieb Polanski seine kindliche Flucht aus dem Ghettoalltag in die Welt des Kinos. Nicht zufällig bildeten Bedrohung und Zuflucht, Ausweglosigkeit und unvermeindliche Konfrontationen in Situationen des Eingeschlossenseins die Grundkonstellation seiner filmischen Subversionen, die Außenseiter dem oft grotesk-makabren Terror ihrer Umwelt aussetzten. In Der Pianist“ bleibt Polanski überraschend zurückhaltend, sichtlich bemüht um einen realistischen Erzählduktus jenseits der Hollywood-Sentimentalität, als ob er aus Respekt vor seiner authentischen Vorlage Grenzen einhalten möchte, die jeder Dramatisierung des Holocaust gesetzt sind. Seine einfache Überlebensgeschichte ist bar jeder Ironie und Subversion, gehorcht klassischen Dramaturgiemustern und bewältigt auf altmodisch-akademische Art die Rekonstruktion eines dokumentarischen Lebensberichtes. Das Verharren in formalen Konventionen, wie sie Spielfilme über das Dritte Reich hervorgebracht haben, mündet im ersten Drittel des Films in zu Stereotypen erstarrten Bildern: bei illustrativ abgehandelten Stationen einer kollektiven Passionsgeschichte, die man so oder anders bereits in Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ fd 30 663), Andrzej Wajdas Korczak“
(fd 28 818) oder Agnieszka Hollands „Hitlerjunge Salomon“
(fd 29 376) gesehen hat; bei bellenden deutschen Soldaten, die emblematisch für das Klischee der teutonischen Bestie stehen. Hier tappt Polanski in die Historisierungsfalle, die Erinnerungen formalisiert, Einzelschicksale hinter Totalen eher verschwinden und bei Massenszenen allzu leicht emotionale Distanz aufkommen lässt. Sein Verzicht auf eine ästhetische Durchdringung des Stoffes kommt einer demütigen Verbeugungsgeste vor den Opfern gleich, der Unterordnung der Kunst im Dienste eines historischen Sujets, das, egal wie oft man es thematisiert, kaum fassbar bleibt. Was Szpilman miterlebte, war eine Hölle, in die sich zwischen Leichenbergen und Leidenden Sadisten, Menschenjäger, Kollaborateure und Spitzel mischten, in der es aber auch Untergrundkämpfer und Helden gab, die lieber in den Tod gingen, als Verrat in Kauf zu nehmen. Folglich hinterfragt der Film auch Tabus, die in Polanskis alter Heimat seit der Jedwabne-Debatte auf der Agenda stehen: Kollaboration und Antisemitismus der Polen, ohne jedoch die Courage jener aus dem Blick zu verlieren, die ungeachtet der angedrohten Todesstrafe Juden versteckten, oder die Legende von den Juden, die sich wehrlos zur Schlachtbank hätten führen lassen. Damit rennt „Der Pianist“ offene Türen ein, besitzen Abrechnungen mit nationalen Mythen seit Louis Malles „Lacombe, Lucien“
(fd 18 760), Marcel Ophüls „Hotel Terminus“
(fd 27 500) und nicht zuletzt Claude Lanzmanns „Shoah“
(fd 25 510) doch eine über 20-jährige Tradition, die die historische Perspektive auf den Holocaust verändert hat. Vielleicht ein Grund mehr, dass Polanskis Trost spendende Geschichte trotz ihrer schlichten Menschlichkeit heute so verspätet wirkt.