Kritiker haben sich angewöhnt, jene Sorte Kunst, die zu einem hohen Grad aus Zitaten bereits existierender Kunstwerke besteht, in die Postmoderne zu verweisen. Damit geben sie einerseits kund, dass derartige Konzepte nicht mehr ganz neu sind; andererseits erlaubt uns dies auch, ganz nach Belieben die darin enthaltenen Rätsel zu lösen oder nicht. Hauptsache, man zeigt, dass man die Spielregeln verstanden hat. So ist man zunächst aus dem Schneider - ungeachtet der Frage, ob man mit dem zitierten Kontext tatsächlich vertraut ist oder nicht. Man kann es aber auch ganz anders sehen. „Es heißt, wenn im englischen Parlament des vorigen Jahrhunderts ein Abgeordneter ein lateinisches Zitat begonnen habe, so hätten sich die übrigen Anwesenden geschlossen erhoben, und das Zitat wie aus einem Munde zu Ende gebracht.“ So beschreibt es zumindest der Folksänger Dave Van Bonk in Greil Marcus’ Buch „Invisible Republic“ als Beispiel dafür, wie vertraut eine Gruppe mit einem bestimmten Kanon sein kann. Die Coen-Brüder streifen in ihrem Werk stets die verschiedensten Sphären kultureller Referenz-Systeme. Diesmal ist da zum Beispiel die Bibel - früher in unserem Kulturkreis fast jedem bekannt, heute nur noch einer Minderheit. Dann Homers Sagenschatz, einen Film von Preston Sturges und schließlich das Vermächtnis eines gewissen Harry Smith. Spätestens jetzt dürfte sich der Adressatenkreises gehörig verengen, und die Schnittmenge derjenigen, die mit all diesen Kontexten genug anzufangen wissen, wäre überschaubar genug, um diesen Film getrost zu einem elitären Minderheitenprogramm zu erklären. Aber seit wann verleihen amerikanische Majors derartig schwere Filmkost? Natürlich kommt man auch ohne Kenntnis dieser Kontexte gut in diesem Film zurecht, der einem dann allerdings möglicherweise etwas zu leichtgängig erscheinen mag. Doch leicht ist der Weg der Coens nie, und erst recht nicht die Odyssee ihres von George Clooney verkörperten Helden Ulysses.Der Kettensträfling überredet zwei Mitgefangene zum gemeinsamen Ausbruch. Einen Goldschatz gilt es zu suchen, die Beute eines Überfalls. Der Weg dorthin ist steiniger als jene „Yellow Brick Road“ des Mädchens Dorothy aus Flemings „Der Zauberer von Oz“
(fd 30 170); wie schon bei ihrem Film „Hudsucker - Der große Sprung“
(fd 30 810) zitieren die Coens die materiellen Glücksversprechungen der social comedies aus dem Hollywood der Depressionszeit. Ein schwarzer Gitarrist, der seine Seele zuvor an den Teufel verkauft hat, schließt sich ihnen an und führt sie in ein Plattenstudio am Wegesrand; unversehens bringen sie es als Folkquartett in stimmigem Satzgesang zu einer denkwürdigen Aufnahme, die bald zum Hit avanciert. Davon bemerken die Freunde freilich wenig, die sich zunächst mit drei Sirenen und einem brutalen Einäugigen herumschlagen müssen. Der Ruhm holt sie freilich ein - bis sich in einer biblischen Flutwelle ohnehin die Verhältnisse neu mischen.„O Brother, Where Art Thou?“ - schon der Titel ist ein Filmzitat, auch wenn es den Film dazu nie wirklich gegeben hat. In Preston Sturges’ berühmter Komödie „Sullivan’s Reisen“ (1941) mischt sich ein vom Erfolg frustrierter Komödienregisseur unter Arbeits- und Wohnungslose, um für das Projekt eines Sozialdramas zu recherchieren. Als Kettensträfling kommt ihm jedoch die Erkenntnis, dass er die unteren Schichten besser mit Komödien erfreuen könne. Die Denkspiel der Coen-Brüder besteht nun einerseits in der Rekonstruktion eines grellbunten Hollywood-Musicals zu diesem Thema, das so nie existierte; anderseits aber öffnen sie die Tür zu einer anderen, lange verschütteten amerikanischen Mythologie. In der Figur eines Sammlers von Folksongs, der die vier Umhergetriebenen vor das Mikrophon lockt, findet eine bestimmte Strömung amerikanischer Kulturgeschichte ihren Widerhall, die in der liberalen Roosevelt-Ära nach der Kultur des ländlichen Amerika forschte. Nicht nur Robert Franks berühmter Fotoband „The Americans“ entstammte diesem Geist - auch zahlreiche Schallplattenaufnahmen hausgemachter Musik, in der sich ein ungezähmter und vor allem unzensierter Blick auf Wünsche und Wirklichkeiten der einfachen Bevölkerung widerspiegelte. Eine Sammlung dieser Aufnahmen, zusammengetragen von einem jungen Mann namens Harry Smith, erschien 1952, mitten in der antikommunistischen McCarthy-Zeit. Diese Stimmen aus dem Hinterland waren mit nichts zu vergleichen, was in der offiziellen Unterhaltungskultur des Landes zu hören war. Und zurzeit des jungen Bob Dylan waren sie unter jungen Songschreibern zeitweilig so geläufig wie die lateinischen Weisheiten im englischen Oberhaus.Dass die Coen-Brüder um dieses Erbe wissen, konnte aufmerksamen Zuhörern ihrer Soundtracks nicht entgehen. Heute, wo sich eine neue Musiker- und Popwissenschaftler-Generation davon inspirieren lässt, setzen sie Harry Smith und seiner „Anthology of American Folk Music“ ein kleines Denkmal. Wie alle wahren Ironiker tragen auch sie einen kleinen Tresor im Herzen, dessen Inhalt ihnen heilig ist. In den wunderbar nachempfundenen Songs ihres Films zeigt sich eine ganz besondere Liebe für den vulgären Surrealismus dieser archaischen Lyrik, ihrer unverhohlenen Sexualität und all dem naiven Utopismus, der in ihnen schlummert. Und wenn sie uns Europäern parallel dazu noch einmal die Geschichte von Odysseus erzählen, so vielleicht nur als Lesehilfe für eine andere Mythologie - die eines vergessenen Amerika. So gesehen ist das Mittel des Zitats weit mehr als postmoderne Koketterie; und die smarten Coens sind am Ende gar die wahren Aufklärer.