Eine weibliche Puppe auf der Suche nach ihrer Identität und ein Atomwissenschaftler im Netz seiner historischen Verantwortung sind die Helden des Kinojahres 2023. Der unerwartete Einschlag der am selben Tag gestarteten Filme „Barbie“ und „Oppenheimer“ hat den Kinos einen Aufwind beschert und die ewigen Fortsetzungen von Erfolgsfilmen auf die Plätze verwiesen. Nachholbedarf besteht derweil weiterhin im Arthouse-Bereich, wo (zu) viele gute Filme auf ein risikoscheues Publikum treffen.
Das witzige Meme „Barbenheimer“ entwickelte sich zum genialsten Marketingcoup des Jahres. Wer hätte gedacht, dass „Barbie“ von Greta Gerwig zum weltweit erfolgreichsten Film des Jahres wird? Ebenso unerwartet ist auch, dass der in vielen Ländern zeitgleich gestartete „Oppenheimer“ von Christopher Nolan kommerziell mit „Barbie“ fast mithalten konnte. Sehens- und lohnenswert sind beide US-amerikanischen Prestigeproduktionen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Greta Gerwig schaffte es, im ersten „Real Life“-Barbie-Film seit der Erfindung der ersten Barbie-Puppe 1959, den Barbie-Mythos ernst zu nehmen und gleichzeitig liebevoll zu hinterfragen. Und Christopher Nolan, der seine Filme oft zu sehr überfrachtet, fand mit „Oppenheimer“ zu einem Gleichgewicht zwischen ambitionierter Form und nachvollziehbaren Inhalt, gedreht in mehreren Formaten, ebenso analog wie digital, in Farbe und in schwarz-weiß.
In Deutschland liegt „Barbie“ zum Jahresende mit fast 6 Millionen Zuschauern vor „Oppenheimer“, in der der USA und den meisten westlichen Ländern verhält es sich ähnlich. In den Niederlanden, wo es ein Arthouse-affineres Publikum gibt, spielte Nolans Film hingegen mehr Geld ein. Allein in Deutschland erreichten die „Barbenheimer“-Filme zusammen auf über 10 Millionen Kinobesucher. Das macht etwa zehn Prozent der Gesamtbesucherzahl des Jahres aus und führte im Sommer zu vollen Sälen und zufriedenen Kinobesitzern. Vielleicht ist es noch kein Trend, aber durchaus bemerkenswert, dass mit Greta Gerwig und Christopher Nolan zwei Autorenfilmer das Mainstreamkino dominieren, die ursprünglich vom klassischen Arthouse-Kino kommen.
Ein Dämpfer für Sequels
So sind es nicht mehr in erster Linie die schier endlosen Hollywood-Fortsetzungen und Marvel-Verfilmungen, die Kasse machen. Das traf Tom Cruise, der mit „Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“ bei weitem nicht einen vergleichbaren Hype wie noch 2022 mit seiner „Top Gun“-Fortsetzung auslöste. Und auch die Rückkehr des über 80-jährigen Harrison Ford in „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ war eher ein Indy für die Best Ager, obwohl durchaus unterhaltsam und mit Phoebe Waller-Bridge als kleptomanischer Ziehtochter auch mit einer erfrischenden Neuperspektive. An der Kinokasse enttäuschte der 5. „Indiana Jones“-Film allerdings deutlich. In der USA summierte das Einspiel auf 175 Millionen Dollar; gekostet hat der Film laut „Variety“ aber 300 Millionen Dollar. Damit reihte er sich ein in eine größere Anzahl relativer Disney-Flops wie „The Marvels“ oder „Arielle,die Meerjungfrau“. Auch „Wish“ als traditioneller Animationsfilm zu Weihnachten blieb hinter den Erwartungen zurück. Ein Lichtblick dagegen war Pixars „Elemental“. Das fantasievolle Werk um ein Feuermädchen und einen Wasserjungen funktionierte wunderbar auf der großen Leinwand und eroberte sich trotz gemischter Kritiken einen Platz unter den erfolgreichsten Filmen des Jahres.
Wie aber lief das erste „normale“ Jahr nach Corona für Verleiher und Kinobetreiber von Arthouse-Filmen? Auch die Programmkinos spielten im Sommer „Barbenheimer“, oft in der Originalfassung oder als OmU-Version, aber durchaus auch in den Synchronfassungen. Natürlich gönnt man jedem engagierten Kinobetreiber, dass er gut durch den heißen Kinosommer kommt. Aber eine Sogkraft für andere Filme ging von „Barbenheimer“ nicht aus. Von einer neu entfachten Neugier oder gar Begeisterung für weniger stark in den (traditionellen wie sozialen) Medien gespiegelten Filme konnte nicht die Rede sein.
Überhaupt verstärkt sich die Tendenz, dass immer weniger Filme für immer mehr Kinobesucher sorgen. Das betont auch Hans-Christian Boese vom Berliner Verleih „Piffl Medien“, einem der letzten klassischen Arthouse-Verleiher, die ihr Glück nicht in gefälligem Arthouse-Mainstream suchen, sondern ganz konsequent Cineasten wie Christian Petzold oder Pietro Marcello begleiten. Wenn es die US-amerikanischen Majors sind, die „Barbie“, „Oppenheimer“, „The Banshees of Inisherin“ oder „Tár“ verleihen, zwingen sie den Kinos ihre Bedingungen auf. Mehr als die Hälfte der Einnahmen fließen dann direkt an den Verleih zurück, der ebenso vorschreibt, wie viele Wochen lang der Film, zu welchen Uhrzeiten und in welchen Sälen gespielt werden muss. Damit „verstopfen“ diese Filme auch Wochen nach ihrem Start die wenigen attraktiven Programmplätze.
Risikoscheue deutsche Arthouse-Zuschauer
Das ist einer der Gründe, warum die Schere zwischen US-amerikanischen und deutschen Mainstream-Filmen und dem klassischen Arthouse-Kino immer weiter auseinanderklafft. Nur exakt die zwanzig Filme der Top 20 haben 2023 hierzulande die magische Millionengrenze geknackt. Das sind konkret 14 Hollywoodfilme, fünf deutsche Produktionen und der hauptsächlich mit französischem Geld gedrehte Animationsfilm „Miraculous– Lady Bug & Cat Noir“. In anderen europäischen Ländern holte das Arthouse-Kino hingegen auf. Der Cannes-Sieger „Anatomie eines Falls“ ist in Frankreich ein Hit mit 1,4 Millionen Zuschauern und hat auch in den Niederlanden oder Italien mehr Besucher als in Deutschland, wo er bei rund 200.000 Zuschauern liegt.
Drastisch fällt
der Vergleich bei kleineren Filmen wie dem wunderschönen „The Quiet Girl“
aus. Das erstaunliche Debüt von
Colm Bairéad, das auch durch die irische (gälische) Sprache überraschte, verzauberte
durch eine einfache Geschichte, wunderschöne Kinobilder im 4:3-Format, betörende
Musik und eine beeindruckende Hauptdarstellerin. Es hagelte international
Preise und sogar eine „Oscar“-Nominierung. Trotzdem sahen das Werk in
Deutschland nur 50.000 Zuschauer, in den Niederlanden und Frankreich jeweils
über 100.000 Kinobesucher.
Dieser Vergleich ist deshalb so interessant, weil er auf ein Manko hinweist, das sich seit Jahren verschärft. Die deutschen Kinozuschauer scheuen das Risiko und setzen vor allem auf US-Filme. Leichter haben es ausländische Filme vor allem dann, wenn sie gängige Klischees bedienen, die man hierzulande pflegt. So schätzt das deutsche Publikum Gérard Depardieu lieber als Koch, den es im wenig originellen „Der Geschmack der kleinen Dinge“ nach Japan zieht, als dass es den Schauspieler als melancholischen Kommissar in der sehenswerten Neuverfilmung von „Maigret“ sehen wollte.
Kein Auge für interessante Trends
Interessante Trends in Europa, wie etwa die neue Stärke und Genrevielfalt des italienischen Kinos, wurden in den deutschen Kinos ebenfalls nicht wahrgenommen. In „Acht Berge“ des belgischen Regie-Duos Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen geht es bildgewaltig und publikumsnah um Lebensträume, Vater-Sohn-Beziehungen und vor allem eine große Freundschaft. In „Die Purpursegel“, einem kleinen Meisterwerk von Pietro Marcello, beweist der italienische Regisseur nach „Martin Eden“ erneut, dass er „historische“ Filme ganz eigenwillig und optisch originell filmen kann. Mit einer Mischung aus Realismus und magischer Überhöhung erzählt Marcello von einem Außenseiter mit goldenen Händen, drei Frauen, die als „Hexen“ gelten, und einem verträumten Mädchen, das wunderbar singen kann. Gefilmt auf 16mm, versehen mit gelegentlichen dokumentarischen Archivaufnahmen, ist dieses zauberhafte Werk einer der schönsten Filme des Jahres.
Sehr berührend war auch das komplexe Familiendrama „L’immensita“ mit Penélope Cruz als spanischstämmiger Mama dreier Kinder in den 1970er-Jahren in Rom; erschütternd „Die Bologna Entführung“ des 84-jährigen Marco Bellocchio um die historisch verbriefte Entführung eines jüdischen Jungen durch die katholische Kirche im 19. Jahrhundert. Vier Filmbeispiele als Beleg für die neue Kraft des italienischen Autorenkinos.
Mehr als Manta
Und wie schlug sich das deutsche Kino jenseits der drei erfolgreichsten Filme „Diedrei ??? – Erbe des Drachen“, „Rehragout Rendezvous“ und „Manta Manta - Zwoter Teil“? Ein Lichtblick für anspruchsvolles Autorenkino war der mit Preisen und Lob überhäufte „Das Lehrerzimmer“ über eine zunächst idealistische Lehrerin, die es gut meint, aber sich verrennt. Kraftvoll auch „Sonne und Beton“ als Kiez- und Ghettofilm um vier Jugendliche aus der Berliner Gropiusstadt während des heißen Sommers im Jahr 2003. Nach dem gleichnamigen Roman von Felix Lobrecht gelingt David Wnendt eine Mischung aus Coming-of-Age, Deutsch-Rap und Ghettofilm, bei dem die Jugendsprache stimmt und die jungen Darsteller überzeugen. Nach Fatih Akins „Rheingold“ war „Sonne und Beton“ erneut ein Genrefilm aus Deutschland, der über eine Million (vor allem junge) Zuschauer erreichte.
International wurde vor allem Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“ wahrgenommen, die den „Europäischen Filmpreis“ als beste Darstellerin erhielt, für einen „Golden Globe“ nominiert wurde und zusammen mit ihrer Rolle in Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ zur derzeit angesagtesten deutschen Schauspielerin avancierte; das deutsche Kino aber hat ihr seit „Toni Erdmann“ kaum noch komplexe Rollen angeboten. An Ansehen mithalten kann da momentan lediglich Franz Rogowski, der ebenfalls in internationalen Filmen wie „Passages“ Furore macht.
Alte Meister in neuem Glanz
Zu guter Letzt erfreute das Kinojahr mit künstlerischen Comebacks einiger Altmeister. Neben Marco Bellocchio drehte Steven Spielberg mit dem autobiografischen „Die Fabelmans“ seinen besten Film seit Jahren, ebenso auch Martin Scorsese mit „Killers of the Flower Moon“. Und Wim Wenders gab es 2023 gleich doppelt in Cannes und im Kino. Mit „Anselm“ inszenierte er einen beeindruckendem 3D-Dokumentarfilm über den bildenden Künstler Anselm Kiefer, mit „Perfect Days“ kehrte er filmisch nach Japan zurück, mit einem stillen Spielfilm über einen charismatischen Toilettenreiniger. Japan reichte das entschleunigte Werk sogar für den „Oscar“ als „Bester internationaler Film“ ein. Damit können sich sowohl Wenders als auch Sandra Hüller in internationalen Produktionen Hoffnungen auf „Oscar“-Nominierungen machen.