Der 1976 geborene italienische Regisseur Pietro Marcello hat sich als Filmemacher einen sehr eigenen Stil erarbeitet und legt seine Filme gern als Hybride an: Dokumentarische und fiktionale Aspekte, aber auch Vergangenheit und Gegenwart gehen bei ihm nahtlos ineinander über. Das gilt auch für seine Literaturverfilmungen wie „Martin Eden“ und aktuell „Die Purpursegel“, in denen trotz allen epischen Anklängen seine Vorliebe für Erzählungen über Außenseiter und den Wert des Handwerks erhalten bleibt.
Was an Raphaël, dem verwitweten Kriegsheimkehrer in Pietro Marcellos „Die Purpursegel“ unmittelbar auffällt, sind seine Hände. Es sind große, kräftige Pranken mit schrundiger Haut – Hände, die viel erlebt haben, an der Werkbank wie auf dem Schlachtfeld. Als Raphaël sie sich einmal vor Entsetzen ins Gesicht schlägt, formen sie einen fleischigen Berg, hinter dem alles Leben erloschen scheint. Doch bald schon sieht man sie erstaunliche Dinge verrichten. Sie zeichnen, drechseln, schnitzen, stimmen ein Klavier, greifen zärtlich nach der Hand der kleinen Tochter Juliette. Marcello rückt diese Hände immer wieder ins Bild, lässt sie sprechen – und lässt über sie sprechen. „Du hast Gold in den Händen. Diese Hände werden Geld einbringen“, prophezeit ihm die Matriarchin Adeline (Noémie Lvovsky), auf deren Hof Raphaël (Raphaël Thiéry) und Juliette nach dem Ersten Weltkrieg ein geschütztes Zuhause finden. Dem Film vorangestellt ist ein Zitat von Alexander Grin, dessen Erzählung Marcello auf eine sehr freie Art adaptiert: „Wir können sogenannte Wunder mit unseren eigenen Händen vollbringen.“
Auch die Hände des russischen Schriftstellers Alexander Grin (1880-1932)
haben viele Dienste geleistet. Grin führte ein Leben als Vagabund, arbeitete
als Goldwäscher, Matrose und Fischer, ging betteln, wenn er ohne Beschäftigung
war. Seine Mitgliedschaft in der damals illegalen Sozialrevolutionären Partei brachte
ihn ins Gefängnis, dort begann er, erste Kurzgeschichten zu schreiben. Wie bei
Grin und Jack London, dem Autor des ebenfalls von Pietro Marcello verfilmten
Romans „Martin Eden“, auch er Seefahrer, Goldsucher und Abenteurer, geht in den
Filmen des Italieners die Arbeit mit den eigenen Händen mit dem Schreiben,
Denken und politischen Handeln „Hand in Hand“. Doch anders als Jean-Luc Godard, der in seinem Film „Bildbuch“ ein „Denken mit den
Händen“ beschwört („Das sind die fünf Finger.
Die fünf Sinne. Die fünf Kontinente. Die fünf Feenfinger. Alle zusammen formen
die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“) begreift Marcello die Hand ganz
basal. Sie ist der Ursprung (im Sinne proletarischer Arbeit), nicht die
Bestimmung. Die Bewegung zum Denken vollzieht sich später – durch die Berührung
mit Kultur, durch Bildung, Sprachverfeinerung.
Ein eigenwilliger Autodidakt
Pietro Marcello, 1976 in Caserta in Kampanien geboren und in einfachen
Verhältnissen aufgewachsen, zählt zu den eigenwilligsten Autoren des (nicht nur
italienischen) Gegenwartskinos. Als Filmemacher ist er Autodidakt, nach einem
abgebrochenen Malereistudium in Neapel war er zunächst als Lehrer in
Gefängnissen tätig, arbeitete mit Insassen an partizipativen Videos. Seine
Filmografie zählt fünfzehn Arbeiten, kurze und lange, dokumentarische, fiktionale
und halbdokumentarische (oder semifiktionale), Marcellos bevorzugtes
Ausdrucksmittel ist, auch bei den Spielfilmen, die hybride Form. Unter den
sechs Langfilmen, die zwischen „La bocca del lupo“ (2009) und „Die Purpursegel“ (2022) entstanden, ist auch einer im Kollektiv gedreht.
2020 inszenierte Marcello zusammen mit Alice Rohrwacher und Francesco Munzi die Dokumentation „Futura“ (2020), eine Reise durch
Italien in der Nachfolge von Pasolinis „Comizi d’amore“ (1964).
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Wie Rohrwacher und Michelangelo Frammartino, mit denen er das Interesse für die prämoderne ländliche Kultur teilt, arbeitet Marcello außerhalb der globalisierten Filmindustrie des Landes. Auch wenn sich sein Werk mit „Martin Eden“ (2019) von den eher rohen dokumentarischen Anfängen zu einem romanhaften, epischen Erzählkino entwickelt hat, sind die zentralen Motive auch im größeren Format geblieben: die Bedeutung von Arbeit, von Schifffahrt und Zügen, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, die Vorliebe für Außenseiterfiguren, die Bezüge zu Literatur wie auch zu sozialrevolutionären Bewegungen – und nicht zuletzt das Bekenntnis zum Handwerk des Filmemachens selbst. Wie Raphaël mit dem Holz arbeitet, so arbeitet Marcello mit dem (analogen) Film, oft ist er sein eigener Kameramann und Produzent, meist dreht er auf 16- und 35mm, einige der Bilder stammen aus offiziellen und privaten Archiven.
Dabei ist die Einbettung nachkolorierter Bilder in die Spielhandlung kein ästhetisches Mittel, das sich im Aufbrechen der reinen Form erschöpfen würde (der Kritiker Ekkehard Knörer spricht in seinem Text in der Zeitschrift „Cargo“ von „Anähnelung“, von einer „Annäherung des eigenen präventiv archivnahen Bildes an das reale Archiv“). Marcello geht es um die Bewahrung einer verlorenen Geschichte, die gleichwohl in einem zeitübergreifenden Raum ihren Platz einnimmt. Hinter der Praxis eines „Recycled Cinema“ lässt sich zudem die Idee des geteilten Eigentums erkennen wie auch ein Argument für Nachhaltigkeit: Wozu mit großem Produktionsaufwand ein Historienfilm-Setting errichten, wo doch alles schon da ist – etwa das belebte Kaufhaus in „Das Paradies der Damen“ (1930) von Julien Duvivier oder die dokumentarischen Bilder vom Tag des Waffenstillstands in der Bucht der Somme. Beides findet sich in „Die Purpursegel“ eingeflochten.
Reisen und sozialer Aufstieg
Marcellos Helden – bis zu „Die Purpursegel“ ist sein Kino bei aller Zärtlichkeit ein doch maskulines Kino – reisen auf Schiffen, in Zügen und zu Fuß oder sie fallen buchstäblich vom Himmel (mit dem Flugzeug). Wenn Juliette vom Fortgehen singt, sich eine wilde Fahrt nach anderen Ufern wünscht, da die Welt „da unten“ zu beengt sei, klingt ihre Rede wie ein Echo des Büffelkalbs Sarchiapone in „Bella e perduta“ (2015), das, ginge es nach ihm, „auf dem Mond geboren wäre oder auf einem anderen Planeten“. Entfernt verwandt sind beide aber auch mit dem Zugnomaden Arturo Nicolodi, der in „Il passaggio della linea“ (2007) zum rhythmischen Rattern der Fernschnellzüge aus seinem Leben erzählt. Der Abspann des Films listet die zurückgelegten Distanzen auf: Venezia – Siracusa, Milano – Agrigento, Palermo – Torino, Roma – Palermo … bis hin zu Bolzano, Lecce. Im Titel, der von einem Roman von Georges Simenon geborgt ist – „Le passage de la ligne“ (1958, dt. „Der Grenzgänger“) – klingt aber auch ein anderes Verständnis von „Strecke“ an, nämlich jene, die in „Martin Eden“ zum zentralen Thema wird: der soziale Aufstieg und, damit verbunden, der Verrat an der eigenen Klasse.
Die Schauplätze in Marcellos Arbeiten sind oft Hafenstädte, in jedem Fall Orte des Übergangs. In keinem Film zeigt sich die Existenz wohl als so prekär und fragil wie in „La bocca del lupo“, Marcellos mehrfach ausgezeichnetem Langfilmdebüt über die sozialen Ränder der Stadt Genua. Der Blick gilt den Obdachlosen, die in den düsteren Höhlen der Hafenanlagen hausen und die als Wiedergänger der im Meer verschwundenen Schiffbrüchigen beschworen werden. Charismatischer Protagonist aber ist Enzo, ein schnauzbärtiger Mann, der direkt aus einem Gangsterfilm kommen könnte. Im Gefängnis, wo er 27 Jahre seines Lebens verbrachte, haben sich der finstere Kriminelle, der bei Disneys „Bambi“ geweint hat, und die ehemals heroinsüchtige Transfrau Mary Monaco kennen und lieben gelernt, seit zwanzig Jahren sind sie ein Paar (einmal preist Mary seine „Hände aus Gold“, mit denen er aus Streichhölzern wunderschönen Dinge machen konnte).
Mit Enzo taucht der Film ein in die Welt der heruntergekommenen
Quartiere und dunklen Bars, in denen gestritten, getrunken und getanzt wird.
Archivbilder zeigen eine ehemals florierende Stadt, sie erzählen von der Arbeit
in den Schiffswerften, von vergangenen Badevergnügen, aber auch vom Niedergang
und dem Verschwinden. Der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft, der
sich in Marcellos Filmen als fundamentale Erschütterung einschreibt, klingt am
Rande auch in „Die Purpursegel“ an, wenn das von Raphaël
geschnitzte feine Holzspielzeug irgendwann der elektrischen Eisenbahn weichen
muss. Es spiegelt sich aber auch in den „Canzoni“ des Sängers Lucio Dalla
wider, dem das – vergleichsweise – konventionelle (oder auch: unaufgeregte)
Porträt „For Lucio“ (2021) gewidmet ist.
Geschichten bewahren
Von einem akademischen Konzept wie „Erinnerungskultur“ ist Marcellos Kino bei allem Geschichtsbewusstsein weit entfernt. Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Dokumentation, Gefundenes und eigens Gestaltetes greifen ineinander, ohne sich auszuweisen, bewohnen den gleichen filmischen Raum. Nach der Hommage „Il silenzio di Pelesjan“ (2011), in der Marcellos Aufnahmen mit Filmbildern des armenisch-stämmigen Regisseurs Artavazd Peleschjan in Dialog treten, widmet sich „Bella e perduta – Eine Reise durch Italien“, der ersten Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Maurizio Braucci, einer anderen Praxis des Bewahrens. Die Geschichte um einen sprechenden Büffel, den sorgsamen Harlekin Pulcinella sowie den Hirten Tommaso, der sich des Tieres annimmt und als selbsternannter „Volontär“ gegen den Verfall eines einst prunkvollen Bourbonen-Palasts in Carditello kämpft, verschränkt Elemente aus Bukolik und Commedia dell’arte mit der sozialen Realität einer gegenwärtigen Region (Caserta, dem Geburtsort Marcellos), die zum Inbegriff wurde für Verfall und Verschmutzung, für rauchende Müllberge und die kriminellen Machenschaften der Mafia. In den wiederkehrenden Subjektiven des Büffels – im Voiceover reflektiert er wehmütig über den Zustand der Welt, klagt und träumt – vollzieht sich eine Blickverschiebung, die indes wenig gemein hat mit den nicht-menschlichen Perspektiven, die seit einigen Jahren vermehrt im Gegenwartskino präsent sind. Marcellos Ansatz ist lyrischer, spielerischer, naiver – und weniger einem Diskurs als einer Kultur traditioneller italienischer Volksweisen verpflichtet, in der sprechende Tiere vermutlich nichts Ungewöhnliches sind.
Auch in „Martin Eden“, Marcellos Schritt zur großen, fast schon monumentalen Kinoerzählung, gehen die Gegenwartsbezüge in einer Art freischwebender Zeitlosigkeit auf. Marcello verlegt die Romanvorlage von Jack London vom Oakland des 20. Jahrhunderts in das Neapel einer unbestimmten Zeit, irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg. Der Film zeichnet die Entwicklungsgeschichte eines ungebildeten Seemanns und Tagelöhners (gespielt von Luca Marinelli) nach, der in den Bann der bürgerlichen Gesellschaft gerät und, geprägt vom evolutionären Denken des politischen Theoretikers Herbert Spencer, als erfolgreicher, aber verbitterter Schriftsteller-Star endet. Dabei stellt Marcello die Figur in einen größeren Kontext sozialrevolutionärer Bewegungen – etwa, wenn er Archivmaterial des Anarchisten Enrico Malatesta einmontiert. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, die für die Arbeiten Marcellos wesentlich ist, wird in „Martin Eden“ mit einer Tragödie beantwortet. Der Künstler bezahlt seine Emanzipation mit einem Verrat an der proletarischen Klasse, als flexibler Vertreter der Kulturindustrie wirkt er gleichzeitig wie ein Vorbote des Neoliberalismus.
Gemessen an „Martin Eden“ und dem (männlichen) Expansionsdrang der Titelfigur, ist die gesellschaftliche Perspektive in „Die Purpursegel“ enger, intimer, femininer, auch kommen magische Elemente und Gesang (Musical!) ins Spiel. Das Gemeinschaftliche zeigt sich matriarchal geprägt, bleibt aber dem Geist des Außenseitertums treu. Der von Adeline geführte „Cour des Miracles“, auf dem auch ein Schmied und seine Familie leben, ist eine kleine Kommune am Rande einer feindlichen dörflichen Umgebung, eine Festung auch gegen die Demütigungen und Angriffe, die Raphaël und Julie immer wieder zu erleiden haben.
Die Öffnung des Raums
Das eigentliche Wunder liegt also weniger in der Ankunft von Purpursegeln und Märchenprinzen als in Zusammenhalt und Solidarität – und in der Magie des Alltags. Wissen und Bildung werden weitergegeben und verbinden sich mit dem Leben (die von Juliette Jouan gespielte Juliette liest Gedichte der Anarchistin Louise Michel), der Kulturgewinn ist jedoch nicht an den Anspruch auf einen Klassensprung gebunden. Anders als in „Martin Eden“ bedeutet Juliettes Emanzipationsgeschichte keinen Verlust, sondern eine Öffnung des Raums, eine Vergrößerung von Welt. Nie war das Kino von Marcello einer gelebten Utopie näher.