Mit Filmen wie „Fireworks“ (1947) und „Scorpio Rising“ (1963) wurde Kenneth Anger zu einer der prägenden Figuren des filmischen Undergrounds; sein Buch „Hollywood Babylon“ machte ihn berühmt-berüchtigt: Indem er Legenden zerlegte, wurde er selbst zu einer. Mit ihm ist im Mai 2023 einer der letzten Vertreter des amerikanischen Experimentalfilms der Nachkriegszeit gestorben.
Ein Traum wurde auf Zelluloid gebannt: In Beverly Hills lud 1947 der damals rund 20-jährige Kenneth Anger Freunde und Bekannte ein, mit ihm einen experimentellen Film zu drehen. Da die Eltern nur für ein paar Tage verreist waren und nur wenig 16mm-Material zur Verfügung stand, musste ebenso schnell wie wohlüberlegt gedreht werden. Kenneth Anger ging aufs Ganze: Prügelnde Seeleute greifen in die Eingeweide des von ihm selbst gespielten Protagonisten, durch das Wohnzimmer wird ein in Flammen stehender Weihnachtsbaum getragen und schließlich sprüht ein Feuerwerk dort, wo man eine Erektion erwartete. Schmerzensschreie wandeln sich in Lustschreie – und schließlich in einen Triumphschrei des 19-Jährigen. Die Aufführungen des Films „Fireworks“ ziehen ein Gerichtsverfahren nach sich und erregten das Interesse des Sexualforscher Alfred Kinsey. Jean Cocteau nahm „Fireworks“ 1949 in das Programm des Festivals du Film Maudit in Biarritz auf, wo er neben Werken von John Ford, Helmut Käutner und Jean Vigo lief.
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Aus den Trümmern und Restbeständen der Traumfabrik
Allein ein Titel aus Angers visionärem Oeuvre reicht für ein
umfangreiches Namedropping aus. Der Solitär liebte Anspielungen, Anekdoten und
Gossip. Sie waren der Stoff für sein Buch „Hollywood Babylon“, seinen größten
kommerziellen Erfolg. Anger kehrte der US-amerikanischen Filmindustrie bereits
nach „Fireworks“ den Rücken und zog von Kalifornien nach Frankreich. Und
dennoch wurde er ein Teil von Hollywoods Filmgeschichte, indem er sich der
Trümmer und Restbestände der Traumfabrik annahm. Ihm ging es dabei nicht um
eine Dokumentation. Die Geschichten aus „Hollywood Babylon“ sind unhaltbar und eher
Verschwörungstheorien. Nichtsdestotrotz gehörten sie zum Geschäft der Studios.
Anger wusste um die selbstzerstörerische Wirkung dieser Industrie, wie auch um die Faszination, die von ihr ausging. In „Puce Moment“ (1949) werden der Kamera Kleider aus den 1920er-Jahren vorgeführt, die aus einem Studiofundus stammen. Auch wenn sie in keinem Film mehr eingesetzt werden, ihre Trägerinnen längst vergessen sind, weiß Anger sie als Artefakte in Szene zu setzen. Er nahm aus dem Trümmerhaufen der Filmgeschichte nicht nur einzelne Objekte, sondern auch die Momente der Verzauberung und des Rauschs, die er auf der Leinwand zu erzeugen wusste.
Kino ohne kommerzielle Schranken
In „Eaux d’Artifice“ (1953) läuft eine barock kostümierte Frau zu der Musik Vivaldis durch einen Park mit verschiedenen Springbrunnen. Als Betrachter ist man wie hypnotisiert und zerfließt zusammen mit der Figur in den stetigen Bewegungen, Lichtbrechungen und Zeitdehnungen. Einige der unverwechselbaren Aufnahmen verwendete Anger in späteren Filmen erneut, so wie er sein Werk immer wieder bearbeitete, vertonte und zusammenfasste.
Ausschnitte aus „Puce Moment“ fügte er 1954 mit langen Überblendungen in den letzten Abschnitt von „Inauguration of the Pleasure Dome“ (1954), einen Filmrausch, den er 1966 und ein weiteres Mal 1978 mit neuer Musik unterlegte. Obwohl er nach „Inauguration of the Pleasure Dome“ wieder in den USA lebte und mit „Scorpio Rising“ (1963) zum New American Cinema gezählt wurde, verblieb sein Schaffen nicht in engen nationalen Grenzen. „Lucifer Rising“ entstand Anfang der 1970er-Jahre gleich auf drei Kontinenten. Eine Station war Deutschland: Im Teutoburger Wald vollzieht Marianne Faithfull als Lilith Rituale – oder, wie sich die Sängerin später erinnert: „Hocus-pocus satanism.“
Es war nur eine von vielen Reisen, die Anger nach Deutschland führten. Reinold Thiel drehte mit einem Team vom WDR einen Dokumentarfilm mit und über den „Magier des Untergrundfilms“, in dem Anger die Bedeutung der Magie des Filmemachens anhand seiner Ideen und Vorstellungen für „Lucifer Rising“ erklärt. 1970 gehörte er zu den ersten Gästen des Abaton-Kinos. In Berlin und München führte er 1979 in Retrospektiven zum Werk von Rudolph Valentino ein, über den er ausführlich in „Hollywood Babylon“ geschrieben hatte („Als der einunddreißigjährige Valentino dahinschied, hinterließ er untröstliche Geliebte beiderlei Geschlechts.“). Dem Leiter des Münchner Filmmuseums, Enno Patalas, vermittelte er Kontakte zu Privatsammlern von deutschen Stummfilmen.
Einfluss auf die deutsche alternative Filmszene
Angers Filme, sein ebenso taumelndes wie handwerklich anspruchsvolles Spiel mit „magick“, hatten eine enorme Wirkung auf eine sich in Deutschland formierende alternative Filmszene Ende der 1960er-Jahre. Eine Vorführung von „Lucifer Rising“ auf den Kurzfilmtagen Oberhausen motivierte Werner Nekes 1965, Programme mit Experimental- und Avantgardefilmen zu organisieren. Angers Filme waren Bestandteil mehrerer XSCREEN-Programme in Köln und liefen sowohl in den Mitternachtsvorführungen des Undependent Film Centers in München als auch in Manfred Salzgebers Bali in West-Berlin. Ulrike Ottinger und Christine Noll Brinckmann öffneten seine Filmgedichte die Augen, letztere widmete ihm und „Scorpio Rising“ ihren Experimentalfilm „Dress Rehearsal and Karola 2“ (1979). Elfi Mikesch zeigte in ihren Seminaren an der dffb Anfang der 1980er-Jahre „Eaux d’Artifice“. Und später bezogen sich Filmemacher wie Rainer Kirberg oder Matthias Müller auf ihn. Anger strahlte aus; er wurde zur Integrationsfigur einer transatlantischen queeren Underground-Szene.
Nach einer langen Pause vom Filmemachen nahm sich Anger der deutschen Geschichte an. Bereits in „Scorpio Rising“ blitzen immer wieder Nazi-Symbole auf. In „Ich will!“ (2000) verwebt er Aufnahmen von Hitlerjungen mit Ausschnitten aus Friedrich Wilhelm Murnaus „Faust“. Großflächig erscheinen die an den Seitenflossen des Zeppelins angebrachten Hakenkreuze in seinem letzten Film, der mit Bildformaten spielenden Found-Footage-Arbeit „Airships“ (2013).
Gegen alle Restriktionen
Die Kraft des Kinos lag für Anger darin, das Publikum in seinen Bann zu schlagen. Daher verzieh er es den kommerziellen Produzenten nicht, wenn sie dem Film Schranken auferlegten und ihn auf den Warenhandel beschränkten. So ist sein Kompilationsfilm „Don’t Smoke That Cigarette“ (2000) nicht nur eine Anti-Raucher-Kampagne, sondern auch eine Anklage gegen alle Restriktionen des kommerziellen Filmgeschäfts. Lebenslang diente ihm das Medium Film dazu, die verborgenen Bedürfnisse aufzudecken – und seien sie so offensichtlich wie die Liebesversprechen der Popmusik und das verchromte Auto mit vulvaförmigen Sitzen in „K.K.K. – Kustom Kar Kommandoes“.
Nimmt man seine Bilder in sich auf, dann geht man ein Wagnis ein. „Inauguration of the Pleasure Dome“ beginnt er mit einer langsamen Kamerafahrt über ein Bild von Aubrey Beardsley, über den der Schweizer Schriftsteller Robert Walser einmal schrieb: „Möglich ist, dass er uns Augen vorzuführen gewagt hat, die vom Weltgenuss ein zu sprechendes Zeugnis ablegten.“ Diese Möglichkeit besteht umso mehr im Fall von Anger.
Hinweis:
Unter dem Titel "Magick Lantern Cycle" ist in der "Zweitausendeins Edition Film" eine DVD mit zehn Kurzfilmen von Kenneth Anger erschienen.