Der
Schweizer Benedict Neuenfels ist der diesjährige Träger des Marburger
Kamerapreises. In seinen mehr als 60 Filmen als „Director of Photography“ für
Filmemacher wie Dominik Graf, Kilian Riedhof, Wolfgang Fischer und viele andere
hat Neuenfels Bilder geschaffen, die sich durch beständige Dynamik und eine
reizvolle Ambiguität auszeichnen. Wie kaum ein anderer Vertreter seiner Zunft
beherrscht er die Kunst, Kino- und Fernsehfilmen ein unverwechselbares
Spannungspotenzial zu verleihen.
Vielleicht steckt die Kunst von Benedict Neuenfels, dem an diesem Wochenende der Marburger Kamerapreis verliehen wird, in einem gelben Gartenstrauch. Das Gewächs taucht hinter der Fensterscheibe eines Küchenfensters auf, inmitten einer traurigen Szene eines traurigen deutschen Fernsehfilms, „Homevideo“ von Kilian Riedhof aus dem Jahr 2011. Der Mann hat seine (Noch-)Frau, die ihn verlassen will, in die Küche gezerrt und die Türe hinter sich geschlossen. Er treibt sie in die Ecke. Viel Platz ist nicht da, und so geht die Kamera mit, zwingt jene, die auseinandergehen sollen, in einer Einstellung zusammen. Die Familienwohnung, das präferierte Dekor des deutschen Fernsehens, ist die Tyrannei der Halbtotalen. „Ich liebe dich nicht mehr“, sagt sie ihm. Und doch steht da zwischen ihnen und hinter der Scheibe dieser sonnenbeschienene Strauch im Garten. Wie eine subtile, unaufdringliche Ambivalenz, eine neue Tonlage, ein spontaner gelber Farbtupfer in der Kleinfamilienhölle.
„Homevideo“
ist deshalb interessant, weil es in dem Film auch um einen Kameramann geht, wenngleich
um einen glücklosen. Der Gymnasiast Jakob, dessen Eltern sich scheiden lassen,
filmt sich mit seinem Camcorder beim Masturbieren. Das Gerät landet in den
Händen fieser Mitschüler, die Aufnahmen landen im Internet, mit verheerenden
Folgen. Wenn Jakob im Klassenzimmer herausfindet, dass ihm übel mitgespielt wird,
geht das Bild des Films (das Bild von Neuenfels) plötzlich selbst in die
Überbelichtung, wie es mit Digitalkameras oft passiert. Der Moment der
Erkenntnis ist brutal: das Bild des verräterischen Camcorders „bricht“ ins Bild
des Films ein (oder wird von diesem imitiert).
Aber diese Brutalität ist hier nicht mehr die inhaltliche, pädagogische Brutalität, die dort entsteht, wo das – junge – Publikum erzogen und sensibilisiert werden soll („passt auf, welche Aufnahmen ihr von euch macht“ + „Mobbing ist schlecht“), indem die Figuren dem Untergang geweiht werden. Sie ist vielmehr eine formale. Sie arbeitet mit der Textur des Mediums, das sich selbständig macht, in die Erzählung eingreift, sie verändert. Mit einem Mal ist da mehr zu sehen als nur ein verletzter Junge: nämlich die schiere Gewalt von Bildern, deren Produzent die Kontrolle über sie verliert.
Der Regisseur der Bilder
So schleicht sich neben den Regisseur des Films ein anderer Regisseur, jener der Bilder. Er macht sich und die Kamera autonomer, zeigt mehr als die Handlung, ohne sich jenseits von ihr zu stellen. Neuenfels, der bis heute mehr als sechzig Filme gemacht hat, bezeichnet sich nicht gerne als „Kameramann“; ein deutsches Wort, das sich nach Techniker anhört, nach Verwalter und Erfüllungsgehilfe der Regie. Die kinoliebenden Amerikaner und Franzosen haben respektvollere Namen für die eigentlichen Künstler und Handwerker des Bewegtbildes: „Director of Photography“, „directeur de la photographie“.
Als ein solcher kann auch Neuenfels verstanden werden, ebenso wie jene, bei denen er einst assistiert hat, in den 1980er- und 1990er-Jahren, zu Beginn seiner Karriere. Da ist Xaver Schwarzenberger, der die letzten Filme von Fassbinder fotografiert hat: „Berlin Alexanderplatz“, „Die Sehnsucht der Veronika Voss“, „Querelle“. Oder Robby Müller, der Kameramann von Wim Wenders und Jim Jarmusch, der „Paris, Texas“ gemacht hat und für den Neuenfels bei Wenders’ „Bis ans Ende der Welt“ als zweiter Kameramann arbeitete, während er von 1988 bis 1994 an der DFFB in Berlin studierte.
Die Arbeiten, die Neuenfels in den 1990er-Jahren als Bildgestalter profiliert haben, sind, wie später „Homevideo“, ebenfalls für Fernsehen entstanden. Wobei sich seine Karriere eng mit jener von Dominik Graf verbindet, der bei vielen dieser Filme Regie führte und versuchte, der normierenden Produktionslogik deutscher Vorabendkrimis seinen eigenen Stempel aufzudrücken, dem System von innen Widerstand zu leisten. Gemeinsam drehten sie 1995 den Tatort „Frau Bu lacht“, der ebenso wie die Serienepisode „Sperling und das Loch in der Wand“ (1996) „irgendwo“ beginnt, mit einem zufälligen Bild, in einer Drehung, einer Spirale, einem Detail an der Wand.
Aus diesem Bilderstrudel heraus entsteht eine von Film zu Film stärker werdende Dynamik der Kamera, die, gerade aus ökonomisch-zeitlichen Gründen, keine Gelegenheit auslässt, in Bewegung zu bleiben, um die Anzahl der Einstellungen zu reduzieren. Anstelle von Schuss-Gegenschuss oder Einstellungswechseln gibt es verstärkt Schwenks und Zufahrten auf Gesichter, während die Bearbeitung des Materials oft gegenwärtig ist: bei Szenen, die mit Nachtsichtgeräten gedreht werden, oder wenn ein Tatort scheinbar grundlos durch eine Fensterscheibe abgefahren wird.
Ekstase im deutschen Fernsehfilm
Auf diese Weise überzieht Neuenfels den spröden deutschen Fernsehfilm mit kristallenen Mikroornamenten, während Graf ihn von innen aufstachelt und wild macht. „Der Skorpion“ (1997) nimmt in dieser Hinsicht noch einmal an Fahrt und Dynamik auf. Polizistenvater (Heiner Lauterbach) und Abiturientensohn (Marek Harloff) begeben sich auf einen Selbstjustiz-Feldzug à la Don Siegel, um einen Anschlag auf die Mutter zu rächen. Doch der Sohn konsumiert auch die Drogen, deren Dealer der Vater jagt. So taucht Neuenfels in eine verrückte Welt der Trips ein, etwa bei einem Pornodreh, bei dem die Rauschvision einer Schauspielerin in ein angehaltenes, dann mehrfach überblendetes Bild überführt wird. Eine Ekstase im paralysierten Zustand, hergestellt mit einfachsten Mitteln. Zwei Einstellungen genügen.
Die Apotheose von Neuenfels’ Fernseh-Schaffen mit Graf ist „Deine besten Jahre“ von 1999, für den Neuenfels seinen ersten Deutschen Kamerapreis gewann. Der Film übernimmt die Konstellation aus dem „Skorpion“ und kehrt sie um. Wieder ist da die Kleinfamilie, doch diesmal sterben Vater und Sohn, womit nur die Mutter übrigbleibt, gespielt von Martina Gedeck, die sich, konfrontiert mit der Zukunft des Familienunternehmens, in einem Netz aus Intrigen und am Rande des Wahnsinns wiederfindet.
Der Film erinnert stark an Hitchcock, an die Heldinnen von „Berüchtigt“, „Verdacht“ oder „Rebecca“, die in größter Gefahr schweben, sowie an die überlegene, grausame Eleganz von Chabrols Filmen der 1970er-Jahre (besonders an „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“ mit Romy Schneider). Die Figuren dynamisch umkreisend wie ein Bussard, den Raum um sie zuziehend wie ein Netz aus Angst, deren Gründe stets undurchschaubar bleiben, findet die Kamera von Benedict Neuenfels mehr denn je zu ihrer ambivalenten Signatur: Sie ist eigenständig, aber nie ganz autonom; stets der Handlung folgend, aber diese doch eher kühl beobachtend, wie eine unbeteiligte Person.
Ein Höhepunkt ist eine Szene auf einem Parkplatz, wenn die zuvor hospitalisierte Gedeck aus dem Krankenhaus entlassen wird, und die nervös die Figuren umfahrende Kamera plötzlich auf ein irrelevantes Detail am Bildrand schwenkt: einen Jungen, der auf einem Holzstapel auf- und abspringt und Leuten außerhalb des Bildfeldes zuwinkt. Da bricht der schiere Zufall und die Realität in die Intrige ein, gibt es ein Surplus, eine Außenwelt, ein zusätzliches „Mehr“, das die Kamera außerdem noch filmen kann: etwas wie ein hüpfender Junge, oder, wie in „Homevideo“, ein gelb blühender Strauch hinter einem Küchenfenster.
Ironisch-distanziert und spielerisch
Vergleicht man Neuenfels mit anderen deutschen „Directors of Photography“, dann ist Michael Ballhaus expressiver und analytischer (siehe die 360-Grad-Kamerafahrt, den sogenannten Ballhaus-Kreisel, oder seine Fähigkeit, für Martin Scorseses „Die Farbe des Geldes“ einen Billardtisch zu sezieren) und Frank Griebe konzeptueller und poppiger (siehe seine Filme mit Tom Tykwer). Neuenfels hingegen ist ironisch-distanziert, spielerisch und sehr wenig konzeptuell, auch in seinen Arbeiten fürs Kino. In „Frau Rettich, die Czerni und ich“ (1998) von Markus Imboden bleibt ein falsch betanktes Auto auf dem Weg nach Spanien mitten in der Fahrt stehen, während die Kamera, die sich außen parallel zum Wagen bewegt hat, ungerührt weiterfährt (ohne Auto). Später, am Strand, liest eine Figur Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“ und schlägt Räder. Neuenfels’ Kamera dreht sich mit, rotiert um die eigene Achse, um die gesprochene Sprache durch jene der Bilder – und warum nicht auch jene der Liebe – zu ergänzen, während das biedere Genre der deutschen Beziehungskomödie spontan um eine Bewegung ergänzt wird, die auch aus dem Experimentalfilm „La région centrale“ (1971) von Michael Snow stammen könnte.
Das
(von Pedro Almodóvar inspirierte) satte Rot, das in Imbodens Komödie
dominiert, im Dekor wie im Licht, verweist auf Neuenfels’ Interesse an
Farbdramaturgie in frühen Kinofilmen: da ist das Grün von Hemden, Bierflaschen,
Toilettentüren und Hinterzimmern in der Gangster-Tragikomödie „Lost Killers“ von Dito Tsintsadze (2000), für den Neuenfels erneut mit dem
Kamerapreis ausgezeichnet wird, oder das Weiß in Stefan Krohmers „Sie haben Knut“ (2003), einer Gruppentherapie-Diskussions-Komödie, die in
den verschneiten Bergen spielt.
Mit der fortschreitenden Digitalisierung wird dann auch Neuenfels’ Arbeit von einer Mutation erfasst, die, wie in „Homevideo“, von den Möglichkeiten der neuen Apparate Gebrauch macht. Dominik Grafs „Der Felsen“ (2002) entstand mit Hilfe einer Mini-DV-Kamera auf Korsika und reizt die essayistischen und erzählerischen Potenziale des neuen Bildformats aus: digitales Maverick-Filmemachen auf einem rauen Felsen, über dem, aufgelöst von der digitalen Kamera, Fallschirmjäger im blauen Himmel aufscheinen wie rote Punkte in einem impressionistischen Gemälde.
Neuenfels’ Kunst braucht die Eigenständigkeit
Die aufwendigen historischen Bebilderungsmaschinen hingegen, die Neuenfels für Stefan Ruzowitzky gelenkt hat, wirken da schon allzu routiniert, automatisiert und unpersönlich. Über ihrer ersten, mit dem „Oscar“ gekürte Arbeit, dem KZ-Drama „Die Fälscher“ (2007), liegt noch die gut aufgetragene, aber schwerfällig-grobkörnige Patina eines alten Kinos, während sich in „Hinterland“ (2021) das Wien von 1918 als digital erzeugte, ins Expressionistisch-Groteske verzerrte Chimäre erweist: eine Computerwelt, die keine Kamera mehr braucht, und keinen Neuenfels.
Auch deswegen sticht unter den jüngeren Arbeiten von Neuenfels der Film „Styx“ (2018) von Wolfgang Fischer hervor. Eine Frau fährt allein auf ihrem kleinen Segelboot den Atlantik hinunter; die Kamera trotzt Wind und Wetter beeindruckende Aufnahmen ab, Fotografie und Segelkunst verschmelzen. Die Kamera ist ebenso eigenständig und auf sich gestellt wie die Seglerin. Wie in „Homevideo“ spielen Bilder eine explizite Rolle. Mit dem Unterschied, dass es sich nicht um die schädlichen und verheerenden Aufnahmen auf einem Camcorder handelt, sondern um die anziehenden und exotischen Darstellungen des Reiseziels, der Insel Ascension, in einem Bildband. So hellt diesmal kein Farbtupfer die Tristesse auf, sondern gerät umgekehrt ein Boot voller Geflüchteter nach einem Sturm ins romantisierte Blickfeld der Skipperin, um auch hier die Ambivalenz wiederherzustellen.