© Salzgeber (aus Felix Moellers Dokumentarfilm „Verbotene Filme“)

Filmliteratur: Studie zum Umgang mit NS-Verbotsfilmen nach 1945

Eine Studie über den defizitären Umgang mit dem NS-Filmerbe im Westen wie im Osten

Veröffentlicht am
23. März 2021
Diskussion

In der Studie „Von Kanonen und Spatzen“ zeichnet die Filmwissenschaftlerin Johanne Hoppe den defizitären Umgang der FSK und der Murnau-Stiftung mit NS-Filmen nach und bilanziert die weiter bestehende Notwendigkeit einer bislang ausgebliebenen Aufarbeitung des braunen Filmerbes.


Man muss sich nur an die Verstrickung des ersten „Berlinale“-Leiters Alfred Bauer als NSDAP-Mitglied und Referent der Reichsfilmkammer erinnern, um die Bedeutung dieser Untersuchung von Johanne Hoppe zum Diskurs der NS-Propagandafilme zu erkennen. In den Jahren nach dem Ende des Dritten Reichs lassen sich nicht nur in Justiz, Ärzteschaft, Forschung und Lehre, Pädagogik, Wirtschaft und Politik, sondern eben auch im Filmwesen viele „Überläufer ausmachen, die manchmal fast übergangslos unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen aktiv wurden. So beriet der „entnazifizierte“ Opportunist Alfred Bauer bereits 1945 die britische Militärregierung!


          Das könnte Sie auch interessieren:


Johanne Hoppe reichte ihre Studie „Von Kanonen und Spatzen“ im Jahr 2019 als Dissertation an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ein. Hoppe wertet darin akribisch umfangreiche Unterlagen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und der Murnau-Stiftung zu Spielfilmen und langen Dokumentarfilmen aus. Die knapp 2000 Fußnoten lassen sich allerdings zumeist nur von Insidern nachvollziehen.

In vier Kapiteln untersucht Hoppe, ob die FSK und die Murnau-Stiftung sowie staatliche Stellen im Zeitraum von 1945 bis 2017 ihrer Verantwortung gerecht wurden, wo Widerstände auftraten und Kontinuitäten obwalteten. Sie hinterfragt, ob eine ernsthafte Diskussion die bis heute verehrten Stars und Lieblingsfilme des NS-Kinos desavouiert hätte. Die Autorin plädiert für einen heute immer noch notwendigen Diskurs über die ursprünglich bis zu 385 Verbotsfilme, da es vor und nach der Souveränität beider deutscher Staaten nur zu einer mangelnden institutionellen Auseinandersetzung mit dem NS-Filmerbe gekommen sei.

Der berüchtigste unter den NS-Verbotsfilmen: „Jud Süß“ (© Salzgeber)
Der berüchtigste unter den NS-Verbotsfilmen: „Jud Süß“ (© Salzgeber)

Das Ziel: die Eliminierung der NS-Ideologie

Die Vorgaben der drei westlichen Militärregierungen und der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) förderten eine unterschiedliche juristische und kommerzielle Auswertungs- und Zensurpraxis. Der Umgang der westlichen Siegermächte mit deutschen Filmproduktionen zielte auf die Eliminierung der NS-Ideologie, auch mittels soziologisch-filmwissenschaftlicher Studien (etwa von Siegfried Kracauer, Heinrich Fraenkel und anderen). Schon existierten bereits Ende 1945 Verbotsfilmlisten mit den Kategorien A (freigegeben), B (frei mit Schnittauflagen) und C (verboten), die bis zum Start der Freiwilligen Selbstkontrolle Film im Sommer 1949 gültig waren.

Hoppe vergleicht ausführlich Einstufungen, Zensurmaßnahmen, ökonomische Interessen, Militär- und privaten Filmverleih, Kino- und Fernsehauswertung, die Filmpolitik nach Gründung der Bundesrepublik, die Ufi-Entflechtung und die UFA-Auferstehung. In der SBZ unterlagen die Hauptverwaltung Film sowie das Staatliche Filmarchiv der DDR anderen Rahmenbedingungen.

Anfang der 1950er-Jahre orientierten sich die FSK-Grundsätze am wiedererstarkten Nationalbewusstsein, ohne eine kritische Befassung mit den Propagandastrategien der im Dritten Reich entstandenen Filme. Personelle Kontinuitäten in Ausschüssen, eine große Publikumsresonanz und die oft nur oberflächliche Entfernung von NS-Symbolen taten ein Übriges. Doch es existierten selbst zwischen US-amerikanischer und britischer (Film-)Politik große Unterschiede. In der DDR kam es zur Beschlagnahmung von Filmrohmaterial; man minimierte Restriktionen, unterbrach aber die Karrieren belasteter Filmschaffender. Der Verleihsektor favorisierte den Kulturbetrieb und erlaubte Freigaben einiger Propagandatitel zum antifaschistischen Friedens- und Sozialismusaufbau.

Hoppe konstatiert vor allem für die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums große Lücken in der SBZ-Quellenlage. Allerdings berichtete der DDR-Filmjournalist Günter Netzeband, dass das antibritische Drama Ohm Krüger von Hans Steinhoff nach Beschlagnahmungen im Reichsfilmarchiv von der Propagandaabteilung des Moskauer ZK 1948 – ohne Hinweis auf seine Provenienz, angepasst an russische „Bedürfnisse“ – mit 220 Kopien eingesetzt worden sei. Schon ein Jahr davor präsentierte man in der Sowjetunion deutsche „Beutefilme“: Die Musicals Die Frau meiner Träume“, „Lache Bajazzo“, „Du bist mein Glück undVergiss mein nichtfeierten sensationelle Erfolge und erhielten Nachschub – trotz ideologischer Bedenken. Weil dem sowjetischen Filmmarkt unterhaltende Eigenproduktionen fehlten, gelangten bis 1950 auch US-amerikanische, britische und italienische Filme aus dem Reichsfilmarchiv zur Aufführung!

„Stukas“ gehört zu den kriegshetzenden Nazi-Propagandafilmen (© Salzgeber)
„Stukas“ gehört zu den kriegshetzenden Nazi-Propagandafilmen (© Salzgeber)

Wirtschaftliche Interesse, bürokratische Ignoranz

Das zweite Kapitel der Studie skizziert den weiteren Umgang der Bundesregierung und ihrer Institutionen mit NS-Produktionen. Neubewertungen von Vorbehaltsfilmen wie Kolberg sollten mediale Kompetenz, politische Bildung fördern. Wissenschaftlich unterstützt oszillierte die filmkritische Diskussion ab 1959 zwischen Freigabe oder „gerahmter“ Vorführung mit Vor- und Nachbereitung. Im Schatten des Eichmann-Prozesses (1961) erarbeiteten Bundesarchiv und FSK aktualisierte Fragestellungen – allerdings ohne eine Ideologieanalyse vorzunehmen. „Viele dieser durchgängig zu beobachtenden Mechanismen beruhen auf historischen Kontinuitäten, die mit dem Zweiten Weltkrieg kein Ende gefunden haben. Die schon früh wieder stattfindende Verschränkung eines wieder aufkeimenden Nationalismus in der BRD mit wirtschaftlichen Interessen ist Grundlage für einen von bürokratischer Ignoranz statt von politischem Verantwortungsbewusstsein geprägten Umgang mit NS-Filmen“, lautet die Quintessenz von Johanne Hoppe.

Nach dem Erwerb des neuen Ufa-Filmstocks durch Bertelsmann kaufte die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) die in Rede stehenden Rechte und überantwortete die Verbotsfilme der 1966 gegründeten Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Die Auswertung übernahm die Transit-Filmvertrieb GmbH. Finanziell und personell schlecht ausgestattet, häufte die Stiftung große Schulden an und wurde mit Urheberrechtsfragen von Veit Harlan, Kristina Söderbaum, Karl Hartl und Leni Riefenstahl konfrontiert. Im Gegensatz zum Ost-Fernsehen nahmen NS-Film-Reprisen im Westen zu.

Die DDR-Regierung und das Staatliche Filmarchiv stuften NS-Produktionen trotz ähnlicher Freigabekriterien als filmkünstlerisches Erbe höher ein als die Bundesrepublik. Repertoire-Reihen in Camera-Kinos erfüllten den Wunsch nach „den schönen alten Filmen“. Man verwies auf Kapitalismus-Kritik und Schnittauflagen, verzichtete jedoch auf eine gründliche Befassung mit belasteten Werken. Im Westen zeitigten wissenschaftliche und journalistische Diskurse auch nach 1975 keine Konsequenzen.

Auch der „Durchhaltefilm“ „Kolberg“ steht nach wie vor auf der Verbotsliste (© Salzgeber)
Auch der „Durchhaltefilm“ „Kolberg“ steht nach wie vor auf der Verbotsliste (© Salzgeber)

Die Trägheit der Institutionen

Die Zeit von 1979 bis 1996 charakterisierten drei signifikante Ereignisse: die Fernsehausstrahlung der „Holocaust“-Serie, die Verkaufsfreigabe von Hitlers „Mein Kampf“ und die Nutzung der VHS-Kassette zur Aufzeichnung oder Vervielfältigung von Filmmaterial. Die Intention der Murnau-Stiftung, ihre Schulden durch eine stärkere Auswertung von NS-Verbotsfilmen abzutragen, wurde nach 1990 von heftigen Kontroversen begleitet, die angesichts der ideologischen Funktion der Filme einen neuen Reflexionsansatz erforderten.

Hoppe diagnostiziert eine strukturelle institutionelle Trägheit bei der Neubewertung problematischer Filme wie auch der „gerahmten“ Veranstaltungen. Die FSK mit ihren Revisionen ehemaliger Freigabe-Entscheidungen von NS-Filmen betrachtet Hoppe als unzuverlässig. Sichtbar wird dies im Anstieg von Freigaben bei Verbotstiteln, durch weniger Schnittauflagen und vermehrte Alterseinstufungen „ab 6“ oder „ab 12“ Jahren – was aufgrund subtiler propagandistisch-ideologischer Tendenzen recht problematisch ist.

In der DDR analysiert Hoppe dagegen eine klarere Haltung, da weniger NS-Filme ins Kino und Fernsehen gelangten. Sie attestiert den DDR-Gepflogenheiten eine „Fortschrittlichkeit“ in Bezug auf die Auswertungspraxis. Zudem wurde nach Hoppes Meinung durch die Wiedervereinigung dem Osten das Bundesarchiv-Konzept übergestülpt.

Eine bleibende Aufgabe

Zwischen 1997 und 2017 entspannte sich die Befassung der Murnau-Stiftung mit Vorbehaltsfilmen. Während eine Evaluation der Gesamtsituation weiterhin nicht stattfand, nahmen medienpädagogisch begleitete Vorführungen von Vorbehalts- und NS-Propaganda-Filmen – in München, Potsdam, Mannheim oder Berlin – zu. Mit der Verbreitung der DVD entwickelte sich ein juristisch-vertrieblicher Graubereich; 2007 indizierte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien Jud Süß.

„Über alles in der Welt“ stellte deutsche Staatsbürger als „Opfer“ des Krieges dar (© Salzgeber)
„Über alles in der Welt“ stellte deutsche Staatsbürger als „Opfer“ des Krieges dar (© Salzgeber)

Die Rechtelage im Umgang mit Verbotsfilmen ist vielfach ungeklärt. 2012 standen noch 44 Titel auf der Liste. Die nach wie vor schwere Zugänglichkeit dieser Werke verhinderte allerdings auch eine Diskussion über ihre propagandistischen Strategien. Es gab Einwände gegen Schnittauflagen der FSK; andererseits monierte man eine antiquierte Befassung mit ideologisch leicht „durchschaubaren“ Inhalten. Heute verfügt die FSK über einen deutlich weiteren Prüfrahmen. Kritischen Editionsprojekten für Vorbehaltsfilme und akademischen Filmerbe-Debatten gelang bislang allerdings kein echter Durchbruch.

Da schon alliierte Verbotslisten nur zwischen Propaganda- und Nicht-Propaganda-Produktionen differenzierten, ist eine tiefgreifende Aufarbeitung des Themas eine Leerstelle. Hilfreich wären in diesem Kontext vielleicht auch Verweise auf Propagandafilme aus Frankreich, Italien, Spanien oder Portugal; allesamt Länder, die zeitweise mit dem deutschen Faschismus kooperierten beziehungsweise sich untereinander austauschten.

Überflüssig und deplatziert wirken in der verdienstvollen Arbeit von Johanne Hoppe allenfalls modische Genderformulierungen wie „Doctrixgrad“, „Doctrixmutter“, „niemensch“ oder „Gästin“. Die Verwendung rein weiblicher Formen („urheberinnenrechtliche Aspekte“ oder „Filmwissenschaftlerinnen“) führt überdies zu Missverständnissen. Dass eine Publikation wie „Zensur. Verbotene deutsche Filme 1933-1945“ (herausgegeben von Kraft Wetzel und Peter Hagemann) oder Klaus Eders 1969 im „Filmreport“ erschienener Aufsatz „NS-Filme fürs Fernsehen?“ nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis genannt werden, erstaunt.


Literaturhinweis:

Von Kanonen und Spatzen. Die Diskursgeschichte der nach 1945 verbotenen NS-Filme. Von Johanne Hoppe. Schüren Verlag. Marburg 2021. 368 S., 34 EUR. Bezug in jeder Buchhandlung oder hier.


Kommentar verfassen

Kommentieren