Kleinkriminelle, Verlorene und ein ominöser Jesus: In der Reihe „Spuren des Religiösen im Film“ geht es um den humanistischen Kern von Bouli Lanners’ schrägem Road Movie „Das Ende ist erst der Anfang“ – ein Film „über verlorene Menschen, gedreht von einem, der an Gott glaubt und dies ausdrücken will“.
Eine triste Landschaft, ein
düsterer Himmel. Schwere Wolken ziehen vorüber, man sieht die Hochtrasse einer
aufgelassenen Magnetschwebebahn. Zwei Kleinkriminelle, Cochise und Gilou, sollen
das Handy ihres Bosses wiederbeschaffen, das jemand geklaut hat. Alles deutet
auf einen Genrefilm hin: Gangster, Schießereien, brutale Typen, trübe Geschäfte,
Macho-Gebaren. Wortkarge Autofahrten durch leere Landschaften,
Verfolgungsjagden, suggestive Musik. Die Filme des französischen Regisseurs
Jean-Pierre Melville kommen einem in den Sinn. In den Bildern und Motiven
klingen aber die Arbeiten der Brüder Dardenne an, die Einflüsse von Quentin Tarantino,
Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch sind spürbar. Das ganze Setting wirkt zunehmend
schräg. Offenbar geht es nicht nur um einen simplen Krimiplot.
Die beiden Kriminellen begegnen einem etwas verwirrten Pärchen, Willy und Esther. Sie brauchen Hilfe und haben das gesuchte Handy gefunden. Nach einer Herzattacke beginnt Gilou über Alter und Krankheit nachzudenken. Ein enigmatischer Hirsch tritt aus dem Nirgendwo ins Bild und steht für einen magischen Augenblick still; ein Einzelgänger taucht auf, den man mit einem Durchschuss der Hand auch für Jesus mit seinen Wundmalen halten könnte.
Die Ersten werden die Letzten sein
Es ist reizvoll, den biblischen und religiösen Anklängen in diesem Film nachzuspüren. Sie zeigen sich schon im Titel: Alpha und Omega, der Tod als Beginn eines neuen Lebens, die Hoffnung auf ein Weiterleben. Auch der französische Originaltitel „Les Premiers, les derniers“ (Die Ersten, die Letzten), dem Matthäus-Evangelium entlehnt (Mt 20,16), verweist auf Biblisches, aber er setzt einen anderen Akzent: Die Ersten werden die Letzten sein. Am Ende der Zeiten wird es nicht auf Macht und Größe, den sozialen Status oder das eigene Durchsetzungsvermögen ankommen. Mit beiden Perspektiven kommt man zu interessanten Lesarten des Films.
In Gangsterfilmen hält der Tod gerne blutige Ernte, oft drastisch ins Bild gesetzt, wobei der „je eigene Tod“ der Opfer meist nicht thematisiert wird (und in einem Genrefilm auch nicht thematisiert werden muss). In „Das Ende ist erst der Anfang“ belässt es Regisseur Bouli Lanners hingegen bei einem ironischen Außenblick der Kamera auf die Lagerhalle, in deren Inneren sich die Bösen beim großen Showdown gegenseitig aus der Welt schaffen.
Ernst ist es Lanners beim Thema Sterben hingegen mit Blick auf den vereinsamten Protagonisten Gilou, dessen wichtigster Kontakt der zu seinem Hündchen Gibus ist. Schon als Gilou einmal mit einer mumifizierten Leiche konfrontiert wird, glaubt er sich in dem Leichnam selbst zu erkennen, sein eigenes Altern und ein mögliches Ende. Er weiß um seine Herzerkrankung, hat sie aber verdrängt und auch seinem Kumpel Cochise nichts davon erzählt. Dann liegt er plötzlich im Krankenhaus. Wo er es nicht lange aushält. Nach seiner Flucht zieht er Konsequenzen. Er offenbart sich seinem Kumpel und er interessiert sich plötzlich für den alten Mann, in dessen Pension sie untergekommen sind und den er bis dahin ziemlich geringschätzig behandelt hat. Als er ihn in seinem Gewächshaus seine Orchideen pflegen sieht, fragt er ihn, warum er sich in seinem Alter all die Mühe mache: mit der Pension, mit den Gästen und ihren Ansprüchen, und dann auch noch mit den Orchideen. Die Antwort haut Gilou um: „Weil das Leben mehr ist, als einfach nur zu atmen.“
Der alte Mann hilft ihm, ein Anliegen in die Tat umzusetzen, das ihn zunehmend beschäftigt. Er will die aufgefundene Leiche ordentlich und mit Hilfe eines Geistlichen bestatten.
Wenn drei alte Männer, ihr eigenes Ende vor Augen, auf offenem Feld eine improvisierte Gedenkfeier halten, erlebt man einen zutiefst humanen Kinomoment, in dem der fast neunzigjährige Max von Sydow in der Rolle des Priesters selten anrührende Worte über das Leben und den Tod findet und ein für alle tröstliches Lied singt.
Begegnungen, Bekehrungen, Konfrontationen
Sieht man im französischen Originaltitel „Les Premiers, les derniers“ primär einen Bezug auf die sprichwörtliche Matthäus-Stelle, treten Willy und Esther in den Vordergrund, zwei liebenswürdige Verlorene, die nur sich und ihre Liebe haben und ein Leben im Abseits der Gesellschaft führen. Sie halten sich mit kleinen Diebereien über Wasser und haben sich in ihrem eigenen Sinnkosmos eingesponnen. Der Fund des Handys bringt sie in Kontakt mit einer Welt, die sie nicht verstehen und der sie auch nicht gewachsen wären, gäbe es da nicht Gilou und Cochise, den ominösen „Jesus“, sowie die selbstbewusste, alleinerziehende Clara, mit der Cochise eine kurze Affäre hat. Ihr gelingt es, zu Esther vorzudringen und das Motiv von Willys und Esthers Odyssee in Erfahrung zu bringen. Willy habe ihr gesagt, die Welt ginge bald unter; deshalb will sie noch einmal ihre Tochter Cynthia sehen. Wegen ihrer Behinderung wurde ihr das Sorgerecht abgesprochen und Cynthia in einer Pflegefamilie untergebracht. Jetzt wollen die beiden den Richter finden und von ihm Cynthias Aufenthaltsort in Erfahrung bringen.
„Das Ende ist erst der Anfang“ ist zugleich ein Road Movie. Alle sind in Bewegung, auf der Suche nach einem verlorenen Handy oder um die Tochter wiederzusehen, jeder jagt seinem Vorteil nach und gleichzeitig sind alle auf dem Weg zum unvermeidlichen Ende des Lebens. Im Film kreuzen sich Lebenspfade auf unerwartete Weise und führen zu überraschenden Begegnungen, Bekehrungen und Konfrontationen; außerdem irrlichtert die ominöse Jesusgestalt durch die Situationen und bringt die Dinge in Fluss. Zwei Ganoven entdecken ihr Herz, und am Ende sind es ausgerechnet die Alten, die eine menschliche Zukunft verkörpern.
Ein verhaltenes Happy End bringt die Umwertung aller weltlichen Werte und Hierarchien ein letztes Mal in ein träumerisches Bild: die, die nichts zu sagen haben, zwei Kleinkriminelle und ein verwirrtes Pärchen, sind dabei, die Letzten an die erste Stelle zu setzen, den Schwachen ihr Recht einzufordern und im Leben zu verwirklichen, worauf es in Blick auf „conditio humana“ wirklich ankommt.
Ein Hang zu zeitgenössischer Metaphysik
„Das Ende ist erst der Anfang“ ist allerdings kein erbaulicher Film. Zwar hat der Regisseur Bouli Lanners, der den herzkranken Gilou persönlich spielt, angemerkt, dass der Film „von verlorenen Menschen“ handle, „gedreht von einem, der an Gott glaubt und dies ausdrücken will“, aber für diese Botschaft nutzt er die Genrekonventionen von Gangsterfilm, Road Movie und Tragikomödie so intelligent, dass es schon massiver Voreingenommenheit bedürfte, um ihm das ernsthaft vorzuwerfen. Er unterläuft die Konventionen, ironisiert sie und bedient sich ihrer zu Zwecken, die ihnen eher fremd sind, ohne dem Film Spannung und Kolorit zu rauben.
Bei Vorführungen des Films in der Reihe „Kino – Kirche – Kultur“ schien ein Gutteil des religiös inspirierten Publikums die humane Dimension der Handlung gar nicht wahrzunehmen. Was zweifellos eine Stärke ist. Offenbar lässt sich „Das Ende ist erst der Anfang“ in seiner Humanität und Menschenfreundlichkeit leichter von einem nichtreligiösen Publikum dekodieren als von einem in Sprach- und Bildkonventionen erstarrten kirchlichen Milieu. Dort irritieren anfangs eher die düstere Atmosphäre, die trostlose Landschaft und die (sehr zurückhaltenden) Gewaltsequenzen, man nahm eher einen Macho- oder Männerfilm wahr, nicht, dass Esther und die Geliebte von Cochise die zentralen Protagonistinnen des Films sind; auch wurde das Spiel mit den Genreelementen und ihre ironische Brechung zunächst nicht goutiert. Mit etwas mehr Kinoerfahrung ließe sich entdecken, das der Film „in seinem Einfallsreichtum und seiner zutiefst empfundenen Menschlichkeit ohne jede falsche Note ist: Formvollendet, großherzig und weise. Grandios“ (Marius Nobach).
Es bleibt anzumerken, dass es sich bei „Das Ende ist erst der Anfang“ um einen belgischen Film handelt. Vielleicht haben die Belgier ja tatsächlich einen besonderen Hang zu einer zeitgenössischen, bildorientierten und anschlussfähigen Metaphysik. Wie vor noch nicht allzu langer Zeit im Kino zu erleben war, existiert Gott tatsächlich; er lebt in Brüssel, hat eine Frau und eine widerspenstige Tochter („Das brandneue Testament“, Regie: Jaco van Dormael).
Und vielleicht darf man es auch nicht für einen Zufall halten, dass in beiden Filmen die weibliche Weltwahrnehmung die entscheidenden Impulse setzt.
„Das Ende ist erst der Anfang“. Belgien/Frankreich 2015. Regie: Bouli Lanners. Länge: 97 Min. FSK: ab 12. Der Film ist als DVD verfügbar. Anbieter: NFP
Fotos: ©NFP